Ein Porträt von Cosima Ariane Galm
Zwischen Büchern, Zeitschriften und Artefakten fühlt er sich am wohlsten: Der Historiker Rolf-Ulrich Kunze. Doch er forscht nicht nur über die Vergangenheit, sondern lässt dabei seine Familiengeschichte aufleben. Kunze zeigt, wie man die Vergangenheit beschreiben, Traditionen weiterleben und persönliche Erlebnisse zum historischen Forschungsgegenstand machen kann.
Es ist der 16. Januar 1956, als Rudi Kunze ein Telegramm aufgibt. Adressatin ist seine Verlobte Gerda Lehmann, die elf Jahre auf ihn gewartet hatte. "Unser Traum ist wahr geworden" schreibt Kunze, der gerade von seiner Freilassung aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft erfahren hatte. Am 21. Januar 1956, am Bahnhof in Osnabrück, Gleis 4, sehen sie sich endlich wieder: Die Eltern von Rolf-Ulrich Kunze. Es ist ein Zug, der die beiden wieder vereint und das gemeinsame Leben beginnen lässt.
Züge spielen noch heute eine entscheidende Rolle im Leben von Rolf-Ulrich Kunze. Betritt man sein Büro, einen Altbau auf dem Gelände des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT), bemerkt man es schnell. Bücher, in denen Zeitschriften über Dampflokomotiven und moderne Eisenbahnen eingeheftet sind, reihen sich in seiner kleinen persönlichen Bibliothek. Er hat Hunderte von ihnen über die Jahre angesammelt. Auch Modelleisenbahnen sammelt er seit Jahren. Wie viele es mittlerweile sind, kann er gar nicht mehr genau sagen.
Bei den Modelleisenbahnen geht es ihm um das Aufbauen, Drapieren und Tüfteln. "Das sind so Dinge, die man gar nicht gezielt wählen kann, sondern die wählen einen", sagt er. Dabei hört er gerne Musik und lässt die Seele baumeln. Auf die Frage, welche Musik er am liebsten höre, erwidert er, dass der amerikanische Sänger und Komponist Randy Newman für ihn "fast so etwas wie ein Familienmitglied" sei. Er bewundert ihn vor allem für seine Texte und die Geschichten, die er in seinen Liedern erzählt.
Kunzes Begeisterung für Eisenbahnen begann in seiner Kindheit. So gibt es Bilder, die ihn schon als Kind im Führerhaus einer Dampflok beim jährlichen Familienurlaub auf Langeoog zeigen. Ein Urlaubsort, den er heute noch regelmäßig besucht.
Wann seine Leidenschaft für Züge und Loks angefangen hat, kann er nicht genau sagen. Doch er erinnert sich, dass er als Kind auf der letzten Fahrt einer Dampflok im deutschen Planverkehr dabei war. Er vermutet, dass Ereignisse wie diese sein Interesse geweckt haben.
Sein Äußeres wiederum ist durch ein anderes Merkmal ausgezeichnet: Seine Vorliebe für Anzüge. Unabhängig vom Wetter trägt Kunze Anzug, Krawatte und Anzugschuhe. Selbst bei 30 Grad hält er seine Vorlesungen in dieser für ihn typischen Kleidung. Sein konsequentes Auftreten im Anzug spiegelt seine Überzeugung wider: Kleider machen für Kunze keine Leute, Kleider machen für ihn Rollen. Außerdem will er seinem Publikum damit Wertschätzung zeigen.
Schon sein Vater trug immer einen Anzug, erzählt Kunze. Diese Tradition führt er fort. Doch das größte Vermächtnis an seine Eltern hat er mit dem Niederschreiben der Familiengeschichte vollbracht: Nach dem Tod seiner Mutter im Jahr 2010 war dieser Schritt für ihn unausweichlich. Vor allem, da es sich bei seinen Eltern um Zeitzeugen der wohl prägendsten Zeit der deutschen Geschichte, dem Dritten Reich, handelte.
Kunze ist Fan davon, Zeitzeugen in die Geschichtswissenschaft einzubeziehen. Viele Historiker sind der Ansicht, dass der Zeitzeuge der Todfeind des Zeithistorikers sei, doch für ihn ist dieses Wissen von größter Wichtigkeit.
Als Kind war es für Kunze normal, dass man zu älteren Menschen in die Wohnung kam und dort Bilder von Toten in Uniform auf dem Kaminsims sah. Man musste danach fragen und bekam ihre Geschichten erzählt. Diese Bilder gehen nach dem Tod der erzählenden Menschen verloren, darum möchte er sie bewahren.
So ist es kein Wunder, dass Kunzes Interesse an Geschichte durch seine eigene Familiengeschichte geweckt wurde. Sein Buch "Das halbe Jahrhundert meiner Eltern" beleuchtet die Zeit seiner Eltern und deren Erlebnisse. Er beschreibt zwei Doppelperspektiven: die seiner Eltern, die lange voneinander getrennt waren, und die zwischen Kindern und Eltern. Für Kunze sind Bücher nicht nur eine Quelle des Wissens, sondern auch eine Verbindung zur Vergangenheit und ein Mittel, um die Zukunft zu verstehen.
Kunze zitiert gerne nach dem deutschen Autor Walter Kempowski: "Wir können es uns nicht leisten, auch nur eine einzige Erinnerung nicht aufzubewahren". Diese Haltung prägt auch seine wissenschaftliche Arbeit und seine Vorlesungen, in denen er umfangreiches Wissen ganz ohne Power-Point-Präsentation oder Skript aus dem Gedächtnis vermittelt. Und will man es doch einmal genauer wissen, lässt er liebend gerne Literaturreferenzen einfließen. Er selbst bezeichnet das als Teil seines Daseins als Historiker. Kunze wirkt, als trage er die kleine Bibliothek seines Büros immer hinter seiner Stirn bei sich.
Aber er sagt auch, dass man sich nicht alles merken sollte, sondern wissen soll, wo die Fakten stehen. Laut ihm geht es bei Geschichte darum, Zusammenhänge zu begreifen. Das gibt er auch seinen Studierenden mit auf den Weg.
Seine akademische Laufbahn begann in Frankfurt am Main und Würzburg. Nach einem abgebrochenen Jurastudium fand er seinen Weg in die Geschichtswissenschaft und entschied sich schließlich für eine Karriere als Dozent. Er betont, dass dies keine bewusste Entscheidung war, sondern sich einfach so ergeben hat. Wäre es nach seinem Vater gegangen, hätte er Journalismus in München studiert, doch nichts hätte ihm ferner gelegen. Heute ist er angesehener Historiker und Autor von 24 Büchern, mit weiteren Werken in der Entstehung. Sein Schreibstil ist geprägt von der täglichen Disziplin, mindestens eine Seite zu schreiben.
Neben Sachbüchern schreibt Kunze Romane, wie "Cambdon. Maine." oder "Inseljahre", in denen er persönliche Einflüsse und Erlebnisse verarbeitet. So auch früher die jährlichen Urlaube auf der Insel Langeoog, heute Terschelling/Niederlande, dem Schauplatz von "Inseljahre".
Er beschreibt sich als Schriftsteller durch und durch.
Damit unterscheidet er sich von vielen anderen Historikern, die sich lediglich mit Sachwissen auseinandersetzten. Doch sich nur mit Sachliteratur und nicht mit Fiktion zu beschäftigen, wäre laut Kunze "langweilig".
Er sieht keine klare Trennung zwischen Hobby und Beruf, da beide Bereiche für ihn eng miteinander verwoben sind. Seine Liebe zu den Niederlanden, die sowohl in seiner Forschung als auch privat eine Rolle spielt, zeigt diese Verbindung. Er spricht fließend Niederländisch und hat ein Faible für das niederländische Königshaus, das er selbst einen 'Splien' nennt. Aber er betont, dass er sich weniger mit dem Hut, den Königin Maxima trägt, beschäftigt, sondern eher mit der Geschichte des Königshauses und den Zusammenhängen aus Religion und Sitten.
Der Titel "Das halbe Jahrhundert meiner Eltern" ist an das Buch "Das Jahrhundert meines Vaters" des niederländischen Autors Geert Mak angelehnt, den er seit Jahrzehnten mag. So lässt Kunze sein persönliches Interesse ein weiteres Mal mit seinem Beruf des Historikers zusammenfließen.
Kunzes Vater unterrichtete evangelische Religion. Er wurde während seiner elfjährigen Kriegsgefangenschaft in der UdSSR von einem evangelischen Hilfswerk unterstützt, was nachhaltigen Einfluss auf sein Leben hatte. So ist es kein Wunder, dass auch die protestantische Geschichte ein weiterer Forschungsschwerpunkt ist, der auch persönliche Bezüge hat. Diese Verbindungen zwischen persönlicher Geschichte und akademischer Arbeit sind charakteristisch für Kunzes Herangehensweise an die Historie. Um diese Herngehensweise nach Außen zu zeigen, sucht er gezielt die Kommunikation.
In der Vergangenheit leitete Kunze sogenannte Erzählcafés, in denen Menschen über ihre Familiengeschichten sprechen konnten. Aktuell leitet er das Erzählcafé nicht mehr, doch es ist ihm ein Anliegen, in Zukunft mit seiner Frau wieder in dieser Richtung zu arbeiten. Solche Treffen seien besonders wertvoll für Geflüchtete und ältere Menschen, sagt Kunze: Sie wüssten, was Verlust ist.
Er hat ein Auslandsjahr in den USA verbracht und sieht das Land als "den Inbegriff der westlichen Welt". Schon für seine Eltern waren die USA die bessere Welt.
Die aktuelle Lage in den USA sieht Kunze als Abbild des Populismus und damit als Abbild der westlichen Welt, von der man lernen könne. Denn darum geht es ihm immer: Aus der Vergangenheit und der Gegenwart zu lernen.
In "Das halbe Jahrhundert meiner Eltern" spricht er auch über die sogenannte "If-History", also das "Was wäre, wenn...". Ein bisschen davon sei wichtig, um zu sehen, was verborgen ist, findet Kunze. Jede Generation hat laut Kunze ihre eigene "If-History". Der Rollenwechsel zur fiktionalen Betrachtung könne helfen, Geschichte zu verstehen.
Aktuell beschäftigt sich Kunze intensiv mit der Untersuchung rechtsextremer Bewegungen in Deutschland. Er zeigt sich besorgt über den zunehmenden Rechtsdruck und die möglichen politischen Konsequenzen. Er sieht eine große Notwendigkeit, diese Entwicklungen genau zu beobachten und zu analysieren: Die eigentliche Gefahr in Deutschland sei der Rechtsextremismus.
Rudi Kunze und Gerda Lehmann erlebten trotz der damaligen Gefahr ein Happy End. Kunze sagt bis heute, dass die beiden großes Glück gehabt haben, und bezeichnet sie als Überlebende ihrer Zeit.
Die Familiengeschichte inspiriert ihn, sich mit der Vergangenheit auseinander zu setzen. Seiner Meinung nach muss man aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen, dafür sei Geschichte da.
Dieses Projekt wurde im Sommersemester 2024 im Rahmen einer Lehrveranstaltung des Master-Studiengangs Wissenschaft–Medien–Kommunikation am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) erstellt.
Autorin:
Cosima Ariane Galm
Seminarleitung:
Julia Weller
Impressum:
Karlsruher Institut für Technologie
ITZ Department für Wissenschaftskommunikation
Adenauerring 12
76131 Karlsruhe
Deutschland
V.i.S.d.P.:
Prof. Dr. Annette Leßmöllmann