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Zwischen Geisterteilchen und Dunkler Materie:

Prof. Dr. Kathrin Valerius sucht nach den Bausteinen des Universums

Ein Porträt von Maria Röhreich



Neutrinos gehören zu den häufigsten Teilchen des Universums und trotzdem wissen wir kaum etwas über sie. Kathrin Valerius vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) erforscht diese unsichtbaren Bausteine und kommt dabei auch der geheimnisvollen Dunklen Materie auf die Spur. Warum sie dabei viel Geduld braucht und wie die Geisterteilchen Teil ihrer Identität wurden.

Samstag, 25. November 2006. Es herrscht beinah Volksfeststimmung in Eggenstein-Leopoldshafen, als sich zahlreiche Menschen um die rot-weißen Absperrbänder versammeln. Alle wollen einen Blick auf den riesigen Metallzylinder erhaschen, der sich Stück für Stück durch die engen Straßen schiebt.



Ganz vorn, noch vor den Absperrbändern, läuft Kathrin Valerius. Es ist ihr Herzensprojekt: das metallgewordene Ergebnis ihrer Diplomarbeit und wochenlanger Berechnungen, das dort durch den baden-württembergischen Ort Leopoldshafen nördlich von Karlsruhe gezogen wird. "Ich hatte den ganzen Tag lang wissenschaftliche Gänsehaut", erinnert sie sich heute, fast 20 Jahre später. „Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, ob das gerade wirklich real ist." Noch heute bewahrt sie die Fotos dieses Tages in ihrem Büro auf.

Das KATRIN-Experiment

Der Bestimmungsort des haushohen Metallzeppelins ist das Forschungszentrum am Campus Nord des KIT, wo es bis heute steht. Es handelt sich um das Hauptspektrometer des "Karlsruher Tritium Neutrino Experiments", kurz KATRIN-Experiment.

Prof. Dr. Kathrin Valerius

Ein internationales Team sucht mithilfe dieses gigantischen Experiments nach der Masse der leichtesten Teilchen des Universums: Neutrinos.



Was sind Neutrinos?

Bei Neutrinos handelt sich um Elementarteilchen, also Teile der kleinsten bekannten Bausteine von Materie. Sie gehören zu den am häufigsten vorkommenden Teilchen des Universums. Allein von der Sonne aus werden pro Sekunde ca. 65 Milliarden Neutrinos auf jeden Quadratzentimeter der Erde geschickt. Auf einen Daumennagel passen mehr Neutrinos als Sandkörner in einen Eimer. Im Gegensatz zu den anderen Elementarteilchen treten Neutrinos jedoch kaum in Wechselwirkung mit anderen Teilchen. Sie sind nicht magnetisch und haben keine elektrische Ladung. Sie treten nur über die Gravitation und die sogenannte "schwache Wechselwirkung" mit anderer Materie in Interaktion.

Kein Wunder also, dass Neutrinos noch gar nicht so lange bekannt sind. Erst 1930 schlug der Physiker Wolfang Pauli die Existenz von Neutrinos als Erklärung für ein bis dahin rätselhaftes Phänomen vor: Im radioaktiven Betazerfall wandelt sich ein Atomkern in eine andere Kernsorte um und sendet dabei ein Elektron aus. Dieses Elektron müsste theoretisch bei jedem Zerfall dieselbe Menge an Energie mitbringen. Allerdings zeigt sich in Experimenten, dass Elektronen aus dem Betazerfall ganz unterschiedliche Mengen an Energie mitbringen. Da Energie aber nicht verschwinden kann, muss die fehlende Energie irgendwo sein. Pauli vermutete, dass diese Energie an ein unsichtbares Teilchen abgegeben wird, das zusammen mit dem Elektron freigesetzt wird: das Neutrino. Etwa ein Vierteljahrhundert nach Paulis gewagter Vorhersage konnte die Existenz der Neutrinos in Experimenten nachgewiesen werden – ihre Erforschung bringt jedoch nach wie vor große Herausforderungen mit sich.



Kathrin Valerius ist gemeinsam mit einer Kollegin die Sprecherin des KATRIN-Projekts. Zu ihren Aufgaben gehört die Koordination der internationalen Zusammenarbeit. "Manchmal ist es wie das Hüten von einem Sack Flöhe", sagt sie lachend. "Für unsere Termine müssen wir Zeiten heraussuchen, die für ganz verschiedene Zeitzonen machbar sind – für die USA, für die europäischen Gruppen und inzwischen haben wir sogar ein Team aus Thailand dabei."

physikalische Vorbilder

Heute ist Valerius Professorin für Astroteilchenphysik, stellvertretende Institutsleiterin und Leiterin ihrer eigenen Abteilung im Bereich Niedrigenergie-Universum. Doch dass sie sich einmal mit Physik beschäftigen würde, ist in ihrer Schulzeit noch nicht absehbar. Eigentlich interessiert sie sich als Jugendliche viel mehr für Sprachen. Mathe und Physik wählt sie nur als Grundfach.



In der achten Klasse nimmt sie an "Jugend forscht" teil und experimentiert mit Spülmittel und der Oberflächenspannung von Wasser. Im Anschluss schenkt ihre Lehrerin ihr eine Biografie der Physikerin Lise Meitner. Das Buch hat Valerius noch heute, genau wie den Kontakt zur damaligen Lehrerin.



"Es gab noch weitere Lehrkraft in der Oberstufe, die mich mindestens genauso positiv beeinflusst hat", erzählt sie. "Es war der Physiklehrer in der 12. und 13. Klasse, der mich eine ganze Unterrichtseinheit über das Tschernobyl-Unglück hat ausarbeiten lassen. Dabei habe ich dann gemerkt, wie viel Spaß es macht, anderen von naturwissenschaftlicher Forschung zu erzählen."

Inzwischen ist es Teil meiner Identität, Neutrino-Forscherin zu sein.

Die Faszination von Neutrinos

Noch heute spricht sie mit Begeisterung über ihre Arbeit, über ungelöste Fragen der Physik und über das KATRIN-Experiment. Oft bietet sie Führungen für Schülerinnen und Schüler an, für Besuchergruppen und für Politik und Medien. Dann zeigt sie den Vorläufer von KATRIN und das große Hauptspektrometer. Ein rhythmisches Klopfen erfüllt dabei die kühle Halle, an den Wänden hängen Plakate, die über die Erforschung von Neutrinos aufklären.

"Es gibt viele Gründe, warum Physiker auf der ganzen Welt Neutrinos untersuchen", sagt Valerius. "Manche wollen einfach das Standardmodell der Teilchenphysik vervollständigen. Wenn wir die Eigenschaften von Neutrinos kennen, werden manche fundamentale Annahmen der Physik neu definiert. Außerdem machen Neutrinos einen Großteil des Universums aus – Neutrinos zu verstehen hilft also, das Universum zu verstehen."



kosmische Architekten

Für Valerius persönlich ist es gerade die Überschneidung von Kosmologie und Teilchenphysik, die den besonderen Reiz des Themas ausmacht. "Ich kann mit der Neutrino-Forschung diese zwei Welten miteinander verbinden. Neutrinos sind kosmische Architekten, die auf den großen Skalen des Universums wirken. Sie gehören seit dem Urknall zu den häufigsten Teilchen überhaupt in unserem Kosmos. Darüber musste ich einfach mehr lernen und inzwischen ist es Teil meiner Identität, Neutrino-Forscherin zu sein."

Die Planungen für das KATRIN-Experiment beginnen 2003. Valerius ist zu dieser Zeit auf der Suche nach einem Thema für ihre Diplomarbeit, als der Tutor einer Übungsgruppe sie in das Arbeitsteam holt. "Als wir das Experiment geplant haben, war klar: Wir brauchen dafür ein riesengroßes Spektrometer, damit es leistungsstärker und empfindlicher wird als seine Vorläufer. Und meine Aufgabe war es, das Design für diesen Tank zu berechnen", erzählt Valerius.

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Wie klingt es in der Halle des KATRIN-Spektrometers?

rätselhafte Geisterteilchen

Da Neutrinos weder elektrisch noch magnetisch mit anderer Materie wechselwirken, sind die sogenannten "Geisterteilchen" schwer zu untersuchen. Um ihre Masse bestimmen zu können, müssen die Physikerinnen und Physiker kreativ werden.

KATRIN misst nicht direkt die Neutrinos, sondern die Energie der Elektronen, die beim Betazerfall von Tritium freigesetzt werden. Hat das Elektron eine besonders große Energie aus dem Zerfall mitbekommen, so bleibt für das Neutrino gerade genug übrig, um zu entstehen – aus der Form des Energiespektrums kann dann auf die Neutrinomasse geschlossen werden.

Dafür werden Elektronen aus dem Tritium-Zerfall in das große Spektrometer geschickt. Im Inneren des Zylinders befindet sich nichts außer Ultrahochvakuum und einem elektromagnetischen Feld.



Ein elektrisches Feld als Hindernis

Die Elektronen folgen den Magnetfeldlinien in der Apparatur. Gleichzeitig wird ihnen ein starkes elektrisches Feld entgegengesetzt. "Je größer das Spektrometer, umso weiter kann sich das Magnetfeld entfalten", erklärt Valerius. "Was dann passiert, ist wie beim Minigolf: Wird der Ball mit genügend Energie angestoßen, schafft er es über den Hindernis-Hügel, wenn nicht, rollt er zurück. Und genauso geht es den Elektronen. Diejenigen mit genügend Energie schaffen es entlang des Magnetfeldes über das elektrische Gegenfeld, die übrigen bleiben zurück. Und von denen, die hinten am Detektor ankommen, können wir die Energie bestimmen und so die Masse der unsichtbaren Neutrinos berechnen."

  • Nachher-Bild: Maria Röhreich (Zeichnung nach dem Vorbild von Michaela Meloni, KIT)

Im Inneren des Spektrometers wandern Elektronen durch ein Magnetfeld. Ein elektrisches Gegenfeld bremst sie wie ein Hindernis ab. Erreicht ein Elektron die Mitte des Spektrometers, wird es wieder schneller, sodass es mit seiner ursprünglichen Energie am Detektor ankommt. [vereinfachte Skizze]

Um nicht durch das natürliche Magnetfeld der Erde gestört zu werden, muss das Spektrometer durch einen Käfig aus Magnetspulen davon abgeschirmt werden. Am hinteren Ende wartet der bierdeckelgroße Detektor auf die ankommenden Elektronen.

Ein Puzzle mit unsichtbaren Teilen

Von der Planung des Experiments 2003 und dem Aufbau ab 2006 dauert es noch zwölf weitere Jahre, bis KATRIN in Betrieb genommen werden kann. 2019 liefert das Experiment erste Ergebnisse, im Sommer 2024 werden die neusten Resultate bekanntgegeben. Die Suche nach den Bausteinen des Universums erfordert eine Menge Geduld, wie ein Puzzle mit unsichtbaren Teilen.

Ich freue mich immer, wenn ich mein 200-Tonnen-Baby besuchen kann.

"Wenn wir ein Ergebnis erhalten, bin ich natürlich erleichtert", sagt Valerius. "Aber es ist ja nicht so, als würde ich neben dem Experiment warten, bis es Daten liefert. Ich freue mich immer, wenn ich mein 200-Tonnen-Baby besuchen kann, im Alltag laufen aber viele verschiedene Arbeitsphasen parallel."

Die meiste Arbeit findet für Valerius am Schreibtisch statt. Sie kümmert sich um ihre Studierenden, koordiniert das Projekt und wirkt gleichzeitig an der Planung der Folgeexperimente mit. Trotz der vielen Termine darf jedoch der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen nicht zu kurz kommen. Zu vielen Menschen, die sie im Laufe ihrer Karriere geprägt und begleitet haben, hat sie bis heute persönlichen Kontakt. Aus diesem Grund notiert sie sich bewusst auch soziale Events im Kalender, wie das Abendessen mit dem Gastprofessor.

Viel Arbeit, wenig Zeit

Die Mittagspausen verbringt sie am liebsten mit den Kolleginnen und Kollegen. Häufig wird gemeinsam im Büro gegessen, in dem kleinen Raum mit Konferenztisch, wo Lego-Figuren zur Dekoration stehen. Die Figuren zeigen eine Chemikerin, eine Paläontologin und natürlich eine Astrophysikerin – alles Frauen, die in der naturwissenschaftlichen Welt nach wie vor in der Unterzahl sind.

Laut des jüngsten Gender-Monitoring-Berichts des KIT waren 2022 nur 18 Prozent der Professor:innen in der Physik weiblich. Ein Umstand, der im Arbeitsalltag spürbar wird: "Die wenigen Frauen, die es in diesen Positionen gibt, werden für Gleichstellungs-Kommissionen verpflichtet", sagt Valerius. „Einerseits ist das positiv, die Sicht der Frauen wird einbezogen. Aber das bedeutet auch, dass die wenigen Leute, die im System sind, zur Verbesserung des Systems besonders hart arbeiten müssen. Wir verbringen viel Zeit mit dieser Arbeit, die dann anderswo fehlt."

Ihrem vollen Zeitplan begegnet Valerius mit präziser Organisation. Der Schreibtisch ist aufgeräumt, die Termine eng getaktet. "Früher habe ich nicht verstanden, dass E-Mails bei anderen Leuten tagelang unbeantwortet bleiben. Heute spüre ich selbst den Termindruck und ich wäge genau ab, welche neue Aufgabe ich noch annehmen kann."

Vom Basislager in die Welt

Den Ausgleich findet sie unter anderem im Ausdauersport, auch wenn die kleinsten Bausteine des Universums sie selbst dort begleiten. Als ihr Laufverein am Baden-Marathon teilnimmt, benennen die Teams sich nach hypothetischen Teilchenarten. "Die schnellsten Teilchen waren vor den anderen im Ziel, es hatte also alles seine Ordnung", sagt Valerius schmunzelnd.

Ausdauer beweist Valerius nicht nur im Training. Zwischen ihrer Diplomarbeit über das KATRIN-Spektrometer und ihrer aktuellen Position als Abteilungsleiterin liegt mehr als ein ganzes Jahrzehnt. Dazwischen hat sie in Münster gearbeitet, in Erlangen, Nürnberg, in Paris und einige Wochen sogar an einem Teleskop in der Wüste Namibias.

Dazwischen kehrt sie immer wieder in ihr "Basislager" zurück, zu ihrem Ehemann, der zu dieser Zeit in Bonn wohnt. "Ohne seinen Rückhalt hätte ich mit Sicherheit andere Entscheidungen getroffen", sagt sie.

Der Dunklen Materie auf der Spur

Inzwischen ist sie in Karlsruhe festangestellt und lebt gemeinsam mit ihrem Mann in Eggenstein, ganz in der Nähe der Arbeitsstätte. Langeweile wird dennoch in den nächsten Jahren nicht aufkommen, denn der nächste geheime Baustein des Universums wartet schon: die Dunkle Materie.



Was ist Dunkle Materie?

Die Physik geht davon aus, dass die Materie des Universums gerade einmal zu 20 Prozent aus der sichtbaren Materie besteht, die wir kennen. Die übrigen 80 Prozent bildet die unsichtbare, sogenannte Dunkle Materie. Woraus diese besteht, ist bis heute nicht bekannt. Man weiß nur, dass ihre Teilchen im Gegensatz zur sichtbaren Materie keine elektromagnetischen Wellen aussenden und schon seit dem Urknall im Universum existieren müssen.



"Eigentlich erfüllen Neutrinos alle Eigenschaften von Dunkler Materie. Aber sie sind viel zu leicht, um die gesamte Dunkle Materie auszumachen. Möglicherweise gibt es also noch mehr Teilchen, die wir bisher nicht gefunden haben", erklärt Valerius. Weltweit wollen Forschende der Dunklen Materie mit einer Vielfalt an Experimenten auf die Spur kommen. Die Forschungsgruppe des KIT ist unter anderem am XENON- Experiment und dessen Nachfolgeprojekt DARWIN beteiligt.

Auch KATRIN kann mit einigen Anpassungen in den nächsten Jahren bei der Suche nach den verborgenen Bausteinen helfen. "Es gibt eine gängige Spekulation in der Teilchenphysik, dass es noch andere, superschwere Neutrinos gibt, über die wir bisher nichts wissen. Die können wir mit KATRIN suchen und das wären dann wiederum sehr gute Kandidaten für einen Teil der Dunklen Materie."









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Autorin:

Maria Röhreich



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