Ein Porträt von Maggy Horvath
Mit seiner Kollegin Claudia Stockinger und seinem Kollegen Christian Hißnauer analysierte er 500 Folgen der deutschen Kultkrimiserie Tatort, um der Erfolgsgeschichte eines im deutschen Fernsehen unvergleichlichen Phänomens auf den Grund zu gehen: Über Stefan Scherers Leidenschaft zum Tatort, wie es zur Tatort-Forschung kam und was er sonst so macht.
Der Tatort ist eine deutsche Kult-Krimiserie und spiegelt Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik wider. Die erste Folge Taxi nach Leipzig wurde am 29. November 1970 um 20:20 Uhr im deutschen Fernsehen, heute Das Erste, ausgestrahlt . Heute zieht der Tatort am Sonntagabend bis zu 13 Millionen Menschen vor den Fernsehbildschirm. Im Leben vieler Zuschauer entwickelte sich die Kriminalfilm-Reihe über die Jahre hinweg zum gesetzten Sonntagsritual, das am Montagmorgen für Gesprächsstoff sorgt.
Auch für Tatort-Forscher Stefan Scherer stellt der Tatort am Sonntagabend ein festes Ritual dar. Er hat schon immer Tatort geguckt, zuerst mit den Eltern und dann selbständig. Der erste Tatort, an den er sich erinnert: Reifezeugnis, ausgestrahlt am 27. März 1977. Mit der Folge verbindet Scherer lebhafte Erinnerungen an den Skandal um die Nacktszenen der damals 15-jährigen Nastassja Kinski, die im Film eine Liebesbeziehung mit ihrem Lehrer hat. Scherer war damals 16 Jahre alt.
Mit Claudia Stockinger, in den Neunzigern wissenschaftliche Angestellte am Institut für Literaturwissenschaft der Universität Karlsruhe, unterhielt er sich in der Mensa "statt über Goethe und Schiller und die schönen Dinge der Literaturwissenschaft über den Tatort vom letzten Sonntag", sagt er. Die damalige Uni ist heute das Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Stockinger mittlerweile Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Scherer und Stockinger kam in ihren Gesprächen auf die Idee, den Tatort zu analysieren und ein Buch darüber zu schreiben.
Unter Berücksichtigung des Tatort-Konzepts als Ganzem untersuchten Scherer und Stockinger mit Christian Hißnauer, der wie Stockinger an der Berliner Humboldt Universität lehrt, 500 Folgen der Kriminalfilm-Reihe hinsichtlich wandelnder Bildästhetiken, Ermittlerfiguren sowie den Handlungsräumen und Konzepten der verschiedenen ARD-Rundfunkanstalten.
Auf 500 Seiten diskutieren Scherer und seine Kollegen in ihrem Buch mit dem Titel Föderalismus in Serie, inwiefern der Tatort eine Kulturgeschichte der bundesrepublikanischen Gesellschaft abbildet. Sie fanden heraus, dass sich am Tatort beobachten lässt, wie sich Lebensstile, Wertvorstellungen und Verhaltensweisen über fünf Jahrzehnte hinweg in der Bundesrepublik verändert haben. Ebenso lassen sich Anpassungen an neue cinematische Qualitäten, also filmgestalterische Mittel und neue Möglichkeiten zur Gestaltung im Film, erfassen; was den Tatort neben seiner soziologischen Perspektive auch aus filmgeschichtlicher Sicht interessant macht.
Guckt Stefan Scherer den Tatort in seinem heimischen Wohnzimmer, dann am liebsten alleine und konzentriert. "Die Kommentare der anderen würden mich nur nerven", sagt er. Nach der Rezeption nimmt er sich zur Perspektivierung der eigenen Eindrücke sofort den Bewertungen professioneller Fernsehkritiker an.
Die Tatort-Forschung ist eins seiner bekanntesten Forschungsgebiete. Nach der Veröffentlichung 2014 war die Nachfrage nach Interviews groß. Auch heute wird er gelegentlich noch als Tatort-Forscher interviewt. Dabei umfasst seine wissenschaftliche Arbeit weit mehr als nur den Tatort.
Seine akademische Laufbahn begann Stefan Scherer 1980 mit dem Studium zum Gymnasiallehrer für die Fächer Deutsch und Sport an der Universität Würzburg. Wegen seines ehrenamtlichen Engagements als Übungsleiter bei seinem heimischen Sportverein war "das Sportstudium sozusagen gesetzt", sagt Scherer.
An eine Karriere in der Wissenschaft dachte er zu diesem Zeitpunkt nicht. Damals wie heute sei es in der Germanistik schwierig, weil zu wenig Professuren zur Verfügung stünden.
Nach dem Lehramtsstudium wollte Scherer in Richtung Sportjournalismus gehen. Auch der Aufbaustudiengang in Sportökonomie an der Universität Bayreuth war eine Option für ihn. "Meine Eltern hatten ein Sportartikelgeschäft, ich kannte mich also mit Schuhen und Skiern aus", sagt Scherer.
Der Weg in die Wissenschaft hat ergab sich schließlich zufällig. Während seines Studiums hielt er Tutorien in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, seiner heutigen Disziplin. "Dadurch kam die Idee, nach dem Staatsexamen in diesem Fach zu promovieren", sagt Scherer. Nach einer Mitarbeiterstelle in Würzburg kam 1993 das Angebot aus Karlsruhe, wo er 2001 habilitierte und später den akademischen Grad des Professors erteilt bekam. Scherer ist am KIT Studiengangsleiter für Lehramt Deutsch, Studiengangkoordinator in den Germanistik- und Lehramt-Deutsch-Studiengängen und dafür auch Fachstudienberater. Weiterhin ist er wissenschaftlicher Leiter des Schreiblabors am House of Competence des KIT, an dem alle Studierenden des KIT durch Kurse und Beratungen ihre Fähigkeiten im wissenschaftlichen Schreiben weiterentwickeln können.
"Ich habe meine Leidenschaft zum Beruf gemacht", sagt der 63-Jährige über seinen Werdegang.
"Ich hatte ursprünglich die Idee, Physik zu studieren", sagt Scherer. Durch ihre Breite deckt die Germanistik Scherers vielfältige Interessen in zeitdiagnostischen Disziplinen wie der Soziologie und Philosophie ab. Aber auch Bezüge zwischen Literatur und zum Beispiel der Physik sind dabei interessant. Die Literatur verbindet für ihn diese unterschiedlichen Sachgebiete.
Sein Lehrangebot erstreckt sich über Werke des 16. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, über die verschiedenen Gattungen Lyrik, Dramatik und Epik und damit über die gesamte Breite des Fachs hinweg. Mit eigenen Vorlieben hält er sich weitgehend zurück. "Barock-Gedichte sind vielleicht nicht so prickelnd, aber interessant an ihrem Ort im 17. Jahrhundert", sagt Scherer. "Trotzdem gibt es natürlich Autoren und Medienprodukte, für die man ein besonderes Faible entwickelt", sagt er schmunzelnd.
In seiner Forschung beschäftigt sich Scherer mit kulturwissenschaftlichen Fragen, die er an Literatur oder mediale Abbildungsformen stellt. Seine Untersuchungsgegenstände sind unter anderem auch Literatur- und Kulturzeitschriften oder Serien, wie es beim Tatort der Fall war. Die Erkenntnisse aus seiner Forschung fließen in die Gestaltung seines Lehrangebots mit ein. "So kann man die Studierenden an den neuen Erkenntnissen teilhaben lassen und sie für sich selbst nochmal vertiefen", sagt Scherer.
Regalfächer voller Zeitschriften im Bücherregal seines Büros spiegeln seine Begeisterung für Literatur- und Kulturzeitschriften wider. Darunter die Akzente von 1982 bis zur Einstellung, der Merkur, den er seit 1983 im Abonnement liest und viele weitere. Sie stellen einen kleinen Teil einer Sammlung dar, die er hierhin ausgelagert hat, da sie nicht mehr in seine Wohnung passen. So lässt sich der in seiner Wohnung aufzufindende Bestand an Lektüren nur vermuten. Er ist ein Spiegel seiner Passion fürs Lesen.
Scherer liest seit seiner Kindheit. "Und nicht nur Jugendliteratur", sagt er. Die Werke französischer Existentialisten wie Sartre und Camus sowie die Gegenwartsliteratur der 70er Jahre prägten seine Jugendzeit. "In der Schule war ich in einer Intellektuellen-Clique und da haben wir uns darüber amüsiert, dass die anderen sich nicht dafür interessierten", sagt Scherer.
Darüber hinaus ging es ihm schon immer darum, über das Gelesene auch zu diskutieren und zu schreiben.
So hat er sich schon früh in einer Art Schülerzeitung, die er auf der Schreibmaschine abgetippt hat, über Gott und die Welt geäußert. "Die habe ich dann meinem Bruder, der heute als Professor für Mathematik an der Uni Stuttgart tätig ist, zum Geburtstag geschenkt und er musste sie dann lesen und zur Kenntnis nehmen, auch wenn es ihn gar nicht interessiert hat", sagt Scherer schmunzelnd.
In der Schulzeit schrieb Scherer Programmhefte für Filmabende, die er für die Dorfjugend seines Heimatorts, eine kleine Marktgemeinde im Spessart, organisierte. Diesem Hobby ging er auch während des Studiums weiter nach, indem er das Semesterprogramm zur Filmreihe eines seiner Dozenten schrieb und an der Gestaltung des Programms mitwirkte. "Da hat sich dann mein Interesse über Literatur auf Film ausgeweitet", sagt der 63-Jährige.
Weiterhin war er mit seinem damaligen Studienkollegen und guten Freund Burkhard Müller, den es nach gemeinsamem Studium und Promotion in den Journalismus zog, Herausgeber einer Literatur- und Kulturzeitschrift mit dem Titel Blätter, die an der Universität Würzburg verkauft wurde und zu Scherers ersten Kontakten zum Kulturbetrieb führte. Burkhard Müller ist heute ein renommierter Literatur- und Kulturkritiker, der für die SZ, DIE ZEIT wie für den Merkur schreibt.
Eng gekoppelt an seine Leidenschaft zu Literatur- und Kulturzeitschriften entwickelte sich im Laufe seiner Jugend eine große Vorliebe für Debatten. Mit Freunden diskutierte er über Filme, aber auch über "Fragen allgemeiner Natur zum Stand der Gesellschaft oder des Kapitalismus", sagt Scherer. In seinem Denken war er geprägt von der Kritischen Theorie, also den Vertretern der Frankfurter Schule wie Adorno – und damit ein Kind seiner Zeit.
Auch heute noch tauscht sich Scherer mit Freunden aus der Studienzeit regelmäßig über den laufenden Kulturbetrieb aus.
Zu verdanken hat Scherer die Lust an Debatten vor allem seinem Vater, der ein debattenfreudiges Familienleben ermöglichte. "Damalige Freundinnen beneideten mich dafür", sagt Scherer. Dass es nicht üblich ist, dass in der Familie so viel geredet wird, merkte er erst, als ihm seine Freundinnen das zurück spiegelten.
Auch in seinen Seminaren versucht Scherer, einen debattenfreudigen und geschützten Raum für seine Studierenden zu schaffen. Hierfür und für sein Engagement als wissenschaftlicher Leiter am Schreiblabor des House of Competence erhielt er nach 2009 für das von ihm gegründete Mentor:innenprogramm Germanistik zum zweiten Mal 2019 den KIT-Fakultätslehrpreis, der unter anderem neue Formen des Lehrens und Lernens ehrt.
Für Scherer haben solche Preise eigentlich keine große Bedeutung. "Die Hauptbestätigung als Akademiker läuft über Publikationen und positive Evaluationen. Aber es zeigt offenbar, dass ich was in meiner Lehre richtig mache", sagt der 63-Jährige.
Bei seinen Studierenden gilt er als streng und anspruchsvoll. Doch die Strenge, die er gegenüber seinen Studierenden ausstrahlt, täuscht, findet Scherer. "Die Eins ist bei mir nicht sicher, aber meine Studierenden werden gut betreut. Wer eine gute Arbeit leistet, erhält auch eine gute Note", sagt der 63-Jährige. Viele Studierende würden sich später fragen, warum sie nicht schon früher zu ihm gekommen sind.
Scherer ist es wichtig, seinen Mitmenschen respektvoll entgegenzutreten. "Debatten führe ich auch durchaus scharf, aber immer unter Würdigung der anderen Person", sagt er.
In dieser Tugend und in der stetigen Vergewisserung über sich selbst übt sich Scherer in Gesprächskreisen mit Bekannten. "Es hilft, Fehler zu vermeiden. Natürlich nicht alle, aber man merkt, wo man anderen vielleicht unbewusst schadet", sagt er. Dies versucht er auch gegenüber seinen Studierenden zu berücksichtigen.
Einen typischen Arbeitsalltag beginnt der 63-Jährige mit einem Kaffee. Dabei rastert Scherer die für ihn bedeutendsten sechs Tageszeitungen. Es ist ihm wichtig, auf dem neuesten Stand aktueller Debatten zu sein. Dafür nimmt er auch die Stimmen in der Bild-Zeitung zur Kenntnis. Wie das Lesen der Literatur- und Kulturzeitschriften dient ihm das Zeitunglesen als Erweiterung seines Horizonts.
Danach folgt die Beantwortung von E-Mails, zumeist auf der Couch, „weil es mir dort irgendwie leichter fällt", sagt er. Als eine Art „Disziplinierungsmaßnahme" begann er lange Zeit um neun Uhr mit der Arbeit, „egal, was man die Nacht davor getrieben hat", sagt Scherer. Mit dem Alter hat sich das verändert. „Je älter man wird, desto mehr wird man gelassener. Man muss dann auch keine großen Qualifikationsschriften und Bücher mehr schreiben", sagt er.
Soziale Medien nutzt er keine. "Das würde zu viel Zeit fressen", sagt der 63-Jährige. "Wenn man so will, lese ich den ganzen Tag."
Hobbys geht er keinen so richtig nach, sagt er. "Meine Frau hat sich immer beschwert, dass ich keine Hobbys habe. Lesen und meine intellektuelle Existenzform habe ich zum Hobby gemacht, deswegen bin ich dessen nicht bedürftig", sagt Scherer.
Sport macht er eher selten, auch wenn er die Lehrbefähigung für elf Sportarten hat. Früher war er begeisterter Skifahrer. Jetzt reicht ihm die Zeit nicht.
Dafür geht es für Spaziergänge in die Karlsruher Parks oder am Wochenende zum Wandern in den Schwarzwald. Viel wichtiger ist ihm der gesellige Kontakt mit Freunden und Kollegen oder regelmäßig ins Kino zu gehen.
Zu seinen weiteren Interessen gehört die bildende Kunst. Wenn er die Möglichkeit hat, besucht er Ausstellungen bedeutender Maler, um die Originale hautnah zu erleben. Diese Reisen verbindet er gern mit privaten Besuchen.
Den Kontakt mit Freunden führt Scherer teilweise über das ganze Bundesgebiet hinweg. Es sind Freundschaften, die im Studium oder im Laufe der Karriere entstanden sind. Am sozialen Leben in Karlsruhe nimmt der 63-Jährige, der aktuell in Ettlingen wohnt, nur bedingt teil, sagt er.
Heimisch fühlt er sich dort, wo seine Eltern sind, in seinem Heimatdorf. "Man hat dorthin eine Anbindung, obwohl man die ganze Zeit wenig damit zu tun haben wollte", sagt Scherer.
Im Laufe seiner Karriere wechselte er ein paar Mal die Orte. Nach dem Studium in Würzburg zog seine damalige Freundin nach München, er ging nach Karlsruhe. Von 2012 bis 2016 verbrachte er Zeiten als Gastdozent in China (am BIT in Peking). 2013, 2015 und 2016 war er im Zusammenhang mit der Tatort-Forschung und einem weiteren Projekt an der Universität in Göttingen tätig. Scherer beschreibt es als ein "nomadisches Leben", so wie es auch viele andere Wissenschaftler erleben.
Heute ist Scherer 63 Jahre alt, er hat noch zwei Jahre bis zum Ruhestand.
Dann soll allerdings nicht Schluss sein. "Ich hatte Glück, mein Hobby zum Beruf gemacht zu haben, ich will deswegen noch verlängern", sagt er. Zwei weitere Jahre wären möglich. Inwiefern das passieren wird, hängt von der Fakultät ab. Einladungen zu Gastvorträgen würde er auf jeden Fall folgen. Denn sich komplett zurückzuziehen, kann er sich nicht vorstellen. "Das fände ich langweilig", sagt er.
Dieses Projekt wurde im Sommersemester 2024 im Rahmen einer Lehrveranstaltung des Master-Studiengangs Wissenschaft–Medien–Kommunikation am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) erstellt.
Autorin:
Maggy Horvath
Seminarleitung:
Julia Weller
Impressum:
Karlsruher Institut für Technologie
ITZ Department für Wissenschaftskommunikation
Adenauerring 12
76131 Karlsruhe
Deutschland
V.i.S.d.P.:
Prof. Dr. Annette Leßmöllmann